1.4-2 Die Stadtmauern

Ich wende mich Lukas zu, fasziniert von seinem Wissen.

„Sag mal, Lukas… wie wurde diese Region eigentlich besiedelt?“

Er lächelt, seine Augen leuchten in ruhiger Begeisterung.

„Ich erzähle dir beide Versionen – denn beide haben hier in der Schweiz ihren Platz.“

Er atmet tief ein, als wolle er seine Gedanken sammeln, dann beginnt er:

„Zuerst gibt es die Legenden – jene, die in alten Büchern stehen und von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Man erzählt, dass die ersten, die die Schweiz besiedelten, Nordmänner waren – Männer aus dem Norden, aus einem Land, das man Mittnachtsonne nennt, dem Land der Mitternachtssonne. Sie sollen Schweden und Friesen gewesen sein, robust und mutig, an harte Winter gewöhnt. Ihre Heimat konnte sie nicht mehr ernähren, also beschlossen sie, aufzubrechen. Sie befragten ihre Priester, und diese befahlen ihnen, Familien zu gründen, nach Süden zu ziehen… und niemals zurückzukehren, unter Todesstrafe.“

Ich höre ihm gebannt zu, und in meinem Inneren entstehen Bilder von wandernden Völkern, die mit ihrem Glauben, ihren Mythen und einer urtümlichen Kraft durch wilde Landschaften ziehen.

„Sie bildeten Gruppen – etwa 6.000 Männer. Sie losten aus, wer aufbrechen sollte, schworen einander Treue und wählten drei Anführer: Swyzer, Swey und Hasiùs. Der Name Schwyz soll von Swyzer stammen. Ein Teil dieser Clans soll die Berge überquert und ein Tal besiedelt haben, das sie nach Hasiùs Hasli nannten. Diese Nordmänner sollen sich in den Alpen niedergelassen, Dörfer gegründet, der Kälte getrotzt und dort gelebt und gedeiht haben.“

Lukas hält kurz inne. Sein Blick verliert sich in den Bergen am Horizont, dann fährt er mit sanfterer Stimme fort:

„Aber es gibt auch das, was uns die Geschichte lehrt. Noch vor diesen legendären Wanderungen war die Schweiz von Kelten bewohnt, vor allem von den Helvetiern. Sie lebten bereits im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung hier. Im Jahr 58 v. Chr. versuchten sie, nach Westen zu ziehen, aber Julius Cäsar hielt sie auf. Danach eroberten die Römer dieses Land und romanisierten die Kelten. Die Schweiz wurde für mehrere Jahrhunderte Teil des Römischen Reiches.“

Ich nicke, bereits eingetaucht in dieses Gewebe aus Völkern und Jahrhunderten.

„Dann, etwa im 3. Jahrhundert, als Rom im Niedergang war, kamen andere: die Alemannen – germanischen Ursprungs – aus dem Gebiet des heutigen Süddeutschlands. Sie ließen sich im Norden und Osten der Schweiz nieder – in dem, was wir heute die Deutschschweiz nennen. Nach und nach vermischten sie sich mit den Kelto-Römern. Und aus dieser Verschmelzung entstand die alemannische Kultur, mit ihrer eigenen Sprache und ihren Traditionen.“

Er wendet sich mir zu, mit funkelndem Blick und einem Lächeln im Mundwinkel:

„Wenn man also zusammenfasst… die Legende erzählt von den Nordmännern, aber die historische Realität spricht vor allem von den Helvetiern und den Alemannen. Die Schweden und Friesen sind wahrscheinlich nie hierhergekommen, aber diese Geschichten bewahren eine ferne Erinnerung an die großen Wanderungsbewegungen – verzerrt durch Zeit und Erzählung.“

Ich lächle, voller Staunen.

„Es ist unglaublich, an all diese Völker zu denken, die die Schweiz geprägt haben… Legende und Geschichte verweben sich hier so selbstverständlich.“

Lukas nickt.

„Das ist die Magie dieses Ortes. Die Berge, die Täler, die Seen… alles hier inspiriert Geschichten. Und während der Fasnacht spürt man diese Resonanz der Vergangenheit noch stärker.“

Um uns herum spielen noch immer die Guggenmusiken, die Menge tanzt, bunt und fröhlich. Ein Gefühl der Verbundenheit durchströmt mich – als ob das Fest, die Steine und der Wind gemeinsam sängen, im Einklang. Lukas hat die Fäden der Vergangenheit ausgerollt, und ich spüre, wie sie sich nun sanft um mich legen.

Mein Blick gleitet bewundernd zu den Hausfassaden unterhalb. Alte Fresken leuchten im Licht der Laternen.

„Lukas, diese Malereien… Es ist, als ob jede Wand eine Geschichte erzählt. Warum sind sie da?“

Er bleibt stehen, legt eine Hand auf eine Steinmauer und blickt einen Moment über die Stadt.

„Du hast ein gutes Auge, Véronique. Diese bemalten Fassaden – das ist das schlagende Herz von Luzern. Sie sind nicht nur zur Dekoration da. Sie erzählen, wer wir sind, unsere Vergangenheit, unsere Werte.“

Er erklärt mir, dass diese Fresken vor allem ab dem 16. Jahrhundert entstanden sind, obwohl einige aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert stammen. Luzern war ein alpiner Verkehrsknotenpunkt. Händler kamen wegen Wein, Salz und Stoffen. Die Zünfte und wohlhabenden Hausbesitzer ließen ihre Häuser bemalen – voller Stolz über ihren Erfolg.

Er zeigt mir ein Haus, verziert mit Weintrauben.

„Dieses hier steht in der Weinmarktgasse, dem historischen Zentrum des Weinhandels. Die Fresken zeigen die Weinlese, den Handel… und manchmal auch Schutzheilige wie den heiligen Nikolaus. Sie sagten der Welt: ‚Seht her, wie wohlhabend wir sind.‘“

Ich folge seinem Blick, fasziniert. Andere Fassaden zeigen Wappen und Kampfszenen.

„Einige erzählen von Schlüsselmomenten unserer Geschichte“, fügt er hinzu. „Wie das Haus Dornach, das den Sieg der Eidgenossen über die kaiserlichen Truppen feiert.“

Dann erzählt er mir vom Zunfthaus zu Pfistern, dem Zunfthaus am Reussufer.

„Dort zeigen die Fresken einen Stammbaum, Wappen… Eine Art zu sagen: ‚Wir sind schon immer hier gewesen.‘“

Sein Blick wird weicher.

„Diese Fresken erzählen nicht von den Nordmännern oder den Kelten. Aber sie tragen ihren Geist in sich: Einheit, Stolz, Erinnerung. Sie sagen, dass diese Stadt durch die Völker entstand, die die Alpen überquerten, Brücken bauten wie die Kapellbrücke und lernten, mit den Bergen, dem Fluss… und der Stille des Windes zu leben.“

Er lässt eine Pause entstehen. Dann, mit leiserer Stimme:

„Dein Vorname, Véronique. Dein Geburtstag. Sie verbinden dich mit diesem Land. Vielleicht trägst du einen Teil der Geschichte Luzerns in dir. Diese bemalten Wände sprechen nicht nur zu den Augen. Sie richten sich an jene, die zuhören können… so wie du.“

Eine sanfte Wärme durchströmt mich. Als würden die Mauern selbst mir etwas zuflüstern. Etwas sehr Altes. Sehr Zartes. Etwas, das mich widerspiegelt.

Und genau an diesem Abend treffe ich die Entscheidung, mein Dorf zu verlassen und nach Luzern zu ziehen.

Denn tief in mir weiß ich: Der Berg ruft mich.

Mein Platz ist hier, im Herzen der Schweiz.

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